Jurist über fristlose Kündigungen bei Gorillas »Ganz ohne Vorwarnung ist das schwierig«

Auf Konfrontationskurs: Gorillas-Fahrer
Foto: Michael Gstettenbauer / IMAGODieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Ein Arbeitskampf, jetzt fristlose Kündigungen: Die Auseinandersetzung zwischen dem Lieferdienst Gorillas und einem Teil der in Berlin dort beschäftigten Fahrradkuriere nimmt weiter Fahrt auf. Mehr als ein Dutzend Fahrerinnen und Fahrer des Start-ups hatte nach SPIEGEL-Informationen vor Kurzem eine fristlose Kündigung erhalten. Das Unternehmen nennt »illegale Streiks« als Grund dafür. Der Jurist Henning Reitz erklärt im Interview, wie die Sache arbeitsrechtlich aussieht.

Henning Reitz ist promovierte Jurist und Partner der Kanzlei Justem Rechtsanwälte mit Sitz in Frankfurt. Er berät Unternehmen verschiedenster Branchen in sämtlichen Fragen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts.
SPIEGEL: Herr Reitz, beim Lieferdienst Gorillas hagelte es offenbar fristlose Kündigungen nach einem Streik. Ist das juristisch in Ordnung?
Reitz: Erst einmal muss man schauen, ob der Streik rechtmäßig war. Dafür gibt es klare Vorgaben: Der Arbeitskampf muss insbesondere auf ein tariflich regelbares Ziel gerichtet sein und von einer tariffähigen Gewerkschaft geführt oder übernommen werden. Das scheint hier – soweit für mich ersichtlich – nicht der Fall zu sein, was weitreichende Konsequenzen hätte: Im Fall eines rechtmäßigen Streiks bekommen die Mitarbeitenden kein Gehalt, müssen aber auch nicht arbeiten. Für einen rechtswidrigen, »wilden« Streik gilt das nicht. Wer da nicht zur Arbeit geht, verletzt seine vertragliche Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung.
SPIEGEL: Und kann dann gleich fristlos gekündigt werden?
Reitz: Das hängt, wie so oft, vom Einzelfall ab. Man muss sich hier vergegenwärtigen, dass die fristlose Kündigung die schärfste Sanktion ist, die das Arbeitsrecht kennt, und Kündigungen stets verhältnismäßig sein müssen. Als Faustregel gilt daher: Ganz ohne Vorwarnung ist das schwierig – es sei denn, es kommen erschwerende Umstände oder noch weitere Vorwürfe wie etwa Beleidigungen oder Sachbeschädigungen anlässlich des Streiks hinzu. Soweit das nicht der Fall ist, wird es überwiegend als erforderlich angesehen, dass der Arbeitgeber erst einmal abmahnt oder zumindest zur Wiederaufnahme der Arbeit auffordert. Es spielt auch eine Rolle, wie lange der Arbeitnehmer schon ohne Beanstandung beschäftigt war.
SPIEGEL: Könnte man den Streik denn dadurch legalisieren, dass man eine Gewerkschaft gründet oder geschlossen bei einer Gewerkschaft eintritt, die dann den Arbeitskampf übernimmt?
Reitz: Es ist rechtlich durchaus anerkannt, dass sich eine Gewerkschaft einen »wilden« Streik unter Umständen nachträglich zu eigen machen und dadurch quasi legalisieren kann. Die Einzelheiten sind hier aber komplex. Insbesondere funktioniert dies nur dann, wenn die fehlende gewerkschaftliche Beteiligung der einzige Fehler des Streiks war.
SPIEGEL: Muss der Arbeitgeber bei einer fristlosen Kündigung alle gleich behandeln, die wild gestreikt haben – oder darf er manche abmahnen und andere kündigen?
Reitz: Das darf man jedenfalls nicht willkürlich aussuchen. Bei Vorliegen sachlicher Gründe für eine ungleiche Behandlung – wie etwa unterschiedlichem Maß oder Intensität der Beteiligung am wilden Streik – darf der Arbeitgeber aber durchaus unterscheiden oder muss dies eventuell sogar. Bei Gorillas laufen die Auseinandersetzungen ja zudem schon seit Monaten. Wenn jemand da zum Beispiel vorab schon einmal eine einschlägige Abmahnung bekommen hat, wäre es auf den ersten Blick sogar konsequent, zu unterscheiden und in diesen Fällen die Kündigung auszusprechen, während die bisher nicht abgemahnten Arbeitnehmer zunächst nur mit der »gelben Karte« in Form einer Abmahnung sanktioniert werden.
SPIEGEL: Offenbar steht in manchen Kündigungen bei Gorillas, es werde »aus wichtigem Grund« gekündigt, aber der Grund selbst wird nicht genannt.
Reitz: Das muss er auch nicht – es sei denn, es gibt eine gesetzliche Spezialregelung, wie das etwa für Auszubildende der Fall ist. Hier liegt die Sache aber wohl anders. In der Kündigung selbst muss kein Grund angegeben sein, allerdings hat der Arbeitnehmer bei einer fristlosen Kündigung einen Anspruch darauf, auf Nachfrage die Gründe mitgeteilt zu bekommen. Sollte es zu einem Prozess vor dem Arbeitsgericht kommen, muss der Arbeitgeber außerdem spätestens dort die Gründe darlegen und nötigenfalls auch beweisen.
SPIEGEL: Der Gorillas-CEO hat vor nicht allzu langer Zeit gesagt, er werde niemanden feuern, nur weil er oder sie streike.
Reitz: Eine solche Äußerung kann vor einem Arbeitsgericht relevant sein – wenn der Chef höchstpersönlich sich so äußert, aber dann das Gegenteil geschieht, kann das rechtliche Auswirkungen haben. Man wird dann aber genauer schauen müssen, in welchem Kontext und mit welcher Bedeutung solche Aussagen getätigt wurden.
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SPIEGEL: Manche Gorillas-Mitarbeiter sagen, in der Kündigung sei ihr Name falsch geschrieben worden. Wäre die Kündigung damit unwirksam?
Reitz: Kleinere Schreibfehler oder Buchstabendreher haben keine Auswirkungen, soweit für den Empfänger klar erkennbar bleibt, dass die Kündigung an ihn bzw. sie gerichtet ist. Wenn der Name gar nicht mehr erkennbar wäre oder zum Beispiel der Vorname ganz fehlte und es zusätzlich dann noch den Nachnamen mehrfach gäbe, sodass eine echte Unklarheit über dem Empfänger besteht, sähe das vielleicht anders aus.
SPIEGEL: Wenn man eine fristlose Kündigung bekommt – wie sollte man reagieren?
Reitz: Sie haben als Arbeitnehmer ganz allgemein eine Frist von drei Wochen einzuhalten, wenn Sie sich vor Gericht gegen eine Kündigung zur Wehr setzen wollen. Wenn Sie nicht innerhalb dieser Zeit nach Erhalt der Kündigung klagen, ist sie fast immer wirksam. Es ist dann in der Regel zu spät. Auch wenn vor dem Arbeitsgericht in erster Instanz hier kein Anwaltszwang besteht, ist es daher sehr sinnvoll, möglichst schnell einen Anwalt einzuschalten.